Zwei Sichtweisen auf Demokratie

Flag UK  [EN] Two Views on Democracy

Es lohnt sich, zwei rivalisierende Sichtweisen auf Demokratie zu beachten: die eine ist hierarchisch und blickt von oben, die andere ist egalitär. Vom Standpunkt der Herrschenden aus betrachtet ergibt sich ein anderes Bild von Gesellschaft, Menschen und Demokratie als bei einer Betrachtung auf gleicher Augenhöhe. Die Mächtigen bevorzugen in der Regel eine repräsentative Demokratie, welche die Macht der Bürger/innen minimisiert; für die Mehrheit der Bevölkerung jedoch ist ein egalitäres Modell wirklicher Demokratie von grossem Vorteil.

Aspekt Herrschaftsperspektive
top-down
Bürgerperspektive
egalitär
Demokratiekonzept Eine Regierungsform; institutionell und extern; staatsorientiert Eine Lebensweise; mehr als eine Regierungsform, auch etwas Persönliches und Inneres; bürgerorientiert
Macht Politiker monopolisieren politische Macht Politiker und Bürger/innen teilen politische Macht
Bürger/Politiker Die Bürger/innen wählen Repräsentanten und diese Wenigen entscheiden für alle. Nur die Repräsentanten werden als politisch kompetent betrachtet. Die Bürger/innen wählen und stimmen ab; beide – “Volk” und Parlament – sind Gesetzgeber. Alle Bürger/innen werden als politisch kompetent betrachtet.
Partizipation Etwas für die Menschen tun und ihnen etwas antun. Das Ziel ist es, vom Standpunkt der Entscheider die beste Lösung zu finden. Die Bürger/innen werden von oben kontrolliert; es wird erwartet, dass sie sich anpassen. Gemeinsam handeln. Das Ziel ist es, Konflikte im besten Interesse aller Betroffenen zu regeln. Freiwillige und eigenmotivierte Partizipation; man erwartet von den Menschen, dass sie widersprechen.
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Eine Definition der Demokratie als Regierungsform entspricht in der Regel einem hierarchischen Ansatz, welcher Demokratie aus der Perspektive der Herrschenden betrachtet. In dieser Sicht wird den sogenannten gewöhnlichen Menschen politische Inkompetenz zugeschrieben und es wird argumentiert, dass unter den Bedingungen moderner Gesellschaften direkte Demokratie weder praktizierbar noch wünschbar sei. Nur Eliten seien zum Regieren fähig, nur sie verfügten über genügend politische Kompetenz, um vernünftige politische Entscheide zum Wohle aller fällen zu können. In diesem Demokratieverständnis ist das Wahlrecht das wichtigste Instrument der Bürgerteilnahme. Aber die Bürger/innen werden von direkter Teilnahme an den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und dürfen nicht mitregieren.

Ein solches elitistisches Demokratieverständnis wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschend. Es überzeugte durch seinen scheinbaren Realismus. Wenn wir dieses Modell jedoch nicht nur als eine Beschreibung der Wirklichkeit (was es nicht ist) akzeptieren, sondern auch als Demokratieideal, dann gibt es für die direkte Demokratie keinen Platz. Damit sich direkte Demokratie entwickeln kann, braucht es eine ganz andere und egalitäre Vision von Staat und Gesellschaft.

Demokratie als Lebensweise repräsentiert eine solche alternative Vision. Sie basiert auf anderen Annahmen über die Natur der Menschen, des Staates und der Gesellschaft als das immer noch verherrschende hierarchische und elitistische “Demokratie”modell. In alternativer Sicht ist Demokratie mehr als nur eine Regierungsform, mehr als ein politisches Ideal, mehr als institutionelle Politik; sie ist auch etwas Persönliches und Inneres, ein soziales Ideal, das in den Erfahrungen des Alltags und der Arbeit verwurzelt ist, und diese Lebenserfahrungen motivieren die Menschen, sich politisch und demokratisch zu engagieren und sich die zur Teilnahme notwendigen Fähigkeiten anzueignen.

Demokratie ist viel mehr als eine besondere politische Form, eine Methode der Regierungsführung, der Gesetzgebung und der Ausübung von staatlicher Verwaltung mittels allgemeinem Wahlrecht und gewählten Amtsträgern. Sie ist etwas Breiteres und Tieferes als das. (…) Sie ist (…) eine Lebensweise, sozial und individuell. Das zentrale Thema von Demokratie als Lebensweise kann ausgedrückt werden, so scheint es mir, als die Notwendigkeit der Teilnahme jeder erwachsenen Person an der Bildung der Werte, die das Zusammenleben der Menschen regeln: was notwendig ist vom Standpunkt sowohl der allgemeinen Wohlfahrt als auch der vollen Entfaltung der Menschen als Individuen.

(John Dewey. 1937. Democracy and educational administration. In: School and Society, 45 (162), 457-462, my translation)

Das Folgende kann nicht genug betont werden: Die Grundlage der Demokratie ist Vertrauen in die Mitmenschen, ein Vertrauen in ihre Fähigkeit zu lernen, falls sie die Gelegenheit dazu haben, sich an öffentlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen zu beteiligen und danach gute politische Entscheidungen zu treffen.

Ein solches Vertrauen zu entwickeln, ist weder naiv noch unrealistisch. Wenn demokratische Prozesse der Meinungs- und Willensbildung organisiert werden, wenn sich die Menschen an Entscheidungsprozessen beteiligen, dann ensteht kollektive Intelligenz. In einer zunehmend komplexen Welt braucht es diese und Kreativität mehr denn je, damit Antworten gefunden werden auf die zunehmend komplexeren Folgen und Probleme, die sich aus den vielfältigen Aktivitäten der Menschen ergeben, die auf tausenderlei Weisen aneinander gebunden und voneinander abhängig sind, sowohl lokal, national, regional als auch global. Keine Regierung, keine Administration und kein Unternehmen ist mächtig und wissend genug, um alleine damit zurechtzukommen.

Souveräne individuelle Bürger/innen sind das einzige Mittel durch das der Demos eine aktuelle physische Existenz erhält.

Strategien zur Lösung komplexer sozialer Probleme müssen auf Tatsachenwissen gebaut sein, nicht auf Ideologie. Nur gerechte Lösungen sind zukunftsfähig. Die Wahl der Erklärung bestimmt die Natur der Problemlösung. Top-down-Strategien vernachlässigen meistens den Input von schwachen sozialen Gruppen (schwach bedeutet nicht klein) und führen zu ungerechten Lösungen, oft unter Zwang. Konkurrenzstrategien neigen eher dazu, das Teilen von Wissen zu verhindern, anstatt dieses zu ermutigen. Auf Zusammenarbeit bauende und demokratische Strategien versuchen, alle Betroffenen einzubeziehen; auch sie brauchen eine minimale Übereinstimmung bezüglich der Problemlage, um zu funktionieren; je grösser die Machtdifferentiale zwischen den sozialen Gruppen sind, desto schwieriger ist es, eine solche gemeinsame Grundlage zu erreichen.

Kein Zweifel, heute besteht ein dringendes Bedürfnis nach intelligenteren und menschlicheren Entscheidungsprozessen. Doch ist der Aufbau von tragfähigen demokratischen Prozessen ein sehr schwieriges und sensitives Unternehmen. Es erfordert die Bereitschaft zur Machttteilung und einen Ausgleich der bestehenden Machtgefälle, so dass die Macht viel gleichmässiger verteilt wird, als das heute der Fall ist. Nicht nur Diktaturen haben damit ein Riesenproblem, sondern auch die oligarchischen Staatsgesellschaften, die sich als repräsentative Demokratie bezeichnen. Das Problem erscheint unlösbar, wenn es darum geht, demokratische Prozesse auf der transnationalen und globalen Ebene aufzubauen, aber das ist die Herausforderung, mit der die Menschheit heute konfrontiert ist.

Aspekt Herrschaftsperspektive
top-down
Bürgerperspektive
egalitär
Demokratietyp Repräsentative Demokratie (RD); exklusive Demokratie Aktivierende Demokratie (AD); inklusive Demokratie
Wert der Demokratie Demokratie hat keinen Selbstwert, sie ist nur Mittel zum Zweck, eine Methode, um politische Macht an die Wenigen abzugeben Demokratie bedeutet Selbstbestimmung und ist ein Selbstwert. Demokratie ist ein Projekt des kollektiven Lernens
Wichtigste Ziele Streben nach Macht; das demokratische Prinzip wird nur sporadisch angewandt; es ist ein Nebenprodukt des Machtkampfes Selbstbestimmung (Autonomie) oder Verwirklichung von individueller Freiheit und gleichen Rechten für alle
Gesellschaftstyp “Order of egoism” oder Kapitalismus. Die Menschen werden als Objekte behandelt, sie sind fremdbestimmt, Herrschaft und Konsumismus “Order of equality” oder Nicht-Kapitalismus. Die Menschen werden als Subjekte behandelt, sie sind selbstbestimmt. Selbstregierung (Demokratie), bedingungsloses Grundeinkommen für alle
Menschenbild Gewöhnliche Menschen sind politisch inkompetent Gewöhnliche Menschen sind politisch kompetent
Souveränität Staatssouveränität; Vertreter des Staates handeln im Namen des Souveräns Volkssouveränität; die Bürger/innen gemeinsam handeln als der Souverän (Pluralismus)
Macht Macht fliesst von oben nach unten: Herrschaft. Power-over, Zwang. Politiker monopolisieren das Recht auf politische Sachentscheide und das Recht, die politische Agenda zu bestimmen. Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung Macht fliesst von unten nach oben: Demokratie. Power-with, power-to, kein Zwang. Politiker und Bürger/innen teilen die Macht, beide haben das Recht, politische Sachfragen zu entscheiden und die politische Agenda zu bestimmen. Erfahrungen von Freiheit und Befreiung
Staat Kapitalistischer Staat, basierend auf dem Ausschluss der Menschen von der Macht. Entscheide werden von den Wenigen von oben gefällt. Machtkonzentration Eine demokratische politische Organisation der Menschen. Entscheidungsprozesse sind horizontal und egalitär. Machtteilung
Freiheitsbegriff Negative Freiheit. Verzicht auf Freiheit als Autonomie. Individuelle Freiheit ist verbunden mit politischer Abstinenz Positive Freiheit. Freiheit als Autonomie. Freiheit bedeutet aktive politische Teilnahme
Rechte und Pflichten Pflichten haben Vorrang vor Rechten Rechte haben Vorrang vor Pflichten
Beziehung zwischen Politikern & Bürger/innen Beziehung zwischen Etablierten und Aussenseitern. Institutionalisierte kategorische Ungleichheit zwischen Politikern und Bürger/innen Politiker und Bürger/innen teilen die politische Macht, keine kategorische Ungleichheit zwischen den beiden Gruppen. Bürger/innen können die Macht der Politiker kontrollieren und haben das Initiativrecht
Rolle der Bürger/innen Wähler, Passivbürger, Aussenseiter in der Politik. Wählen politische Parteien und Personen, geben den Politikern Ratschläge. Politisch abhängig und unmündig Wahlrecht und Stimmrecht. Bürger/innen können intervenieren, sie sind Gelegenheitspolitiker und fällen die wichtigsten Entscheide, sie sind politisch unabhängig und autonom
Rolle der Politiker Aktivbürger, Entscheider, Politiker regieren für die Menschen. Sie können die Menschen um Rat fragen. Mitglieder von exklusiven etablierten Gruppen (“Eliten”) Aktivbürger, Entscheider, Politiker regieren zusammen mit den Bürger/innen. Ratgeber der Bürger/innen. Mitglieder von weniger oder nicht-exklusiven Gruppen (“Eliten”)
Teilnahme an Entscheidungsprozessen Passiver Bürgerstatus. Etwas für die Menschen tun und ihnen etwas antun: Bürgerteilnahme ist nicht notwendig (ausser bei den Wahlen). Politiker entscheiden auf Grund ihrer eigenen Interessen. Der Bürgerbeteiligung mangelt es an Infrastruktur, Zeit und öffentlichen Räumen. Entpolitisierung der Menschen. Politik findet vom Alltag getrennt statt. Aktiver Bürgerstatus. Zusammenhandeln: Bürgerbeteiligung ist notwendig und fundamental. Demokratische Politik orientiert sich am Gemeinwohl. Es gibt eine Infrastruktur für Bürgerbeteiligung. Direkte Demokratie. Politik ist ein Teil des Alltags

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