
Moderne direkte Demokratie (MDD) als ein umfassendes Ensemble von Initiativ- und Referendumsrechten gibt den Bürger/innen das Recht, die Volkssouveränität mittels Volksabstimmungen über politische Sachfragen auszuüben, d.h. eigene Gesetze und Verfassung zu machen und ständig zu erneuern. Durch die Kombination von RD mit direkter Demokratie ergibt sich eine qualitative Veränderung in der Beziehung zwischen Bürger/innen und gewählten Politikern, und damit entsteht ein neuer Typ von Demokratie. Ich bezeichne ihn als “aktivierende Demokratie” (AD), und zwar aus zwei Gründen.
Erstens, die Verbindung von Repräsentation mit einem Ensemble gut ausgebauter, umfassender und benutzerfreundlicher Initiativ- und Referendumsrechte (MDD) verwandelt das passivierende repräsentative System (RD) in eine Demokratie mit hoher Energie (AD). Mit der MDD wird ein dynamisches, störendes und herausforderndes Element institutionalisiert, welches die “repräsentative Demokratie” aktiviert und dazu beiträgt, dass das politische System weder erstarrt noch leicht ausgehöhlt werden kann (vgl. Luciani 1998).
Zweitens, AD integriert die Bürger/innen mittels direktdemokratischer Rechte in die politischen Entscheidungsprozesse und ermutigt sie dadurch zur politischen Teilnahme und zur Übernahme von Verantwortung. RD hingegen schliesst die grosse Mehrheit der Menschen aus der direkten Teilnahme an den Entscheidungsprozessen aus. Sie passiviert und entfremdet die Bürger/innen und vermittelt ihnen die Vorstellung, dass für politische Sachentscheide nicht sie, sondern ganz allein die Politiker zuständig sind.
In der athenischen Demokratie wurden die Volksvertreter (Rat der 500, Volksgerichte) durch das Los bestimmt (die demokratische Methode) und nicht durch Wahlen. Die Auslosung gibt jedem – arm und reich – die gleiche Chance gewählt zu werden. Wahlen hingegen bevorteilen Menschen aufgrund von Geburt, Reichtum und Erziehung. Sie stehen ganz im Zentrum von dem, was wir heute als repräsentative Demokratie bezeichnen. Wenn wir etwas genauer hinschauen, zeigt sich, dass unsere Verfassungen eine Regierung der Wenigen (die gewählten Politiker) über die Vielen (die Mehrheit der Bevölkerung) konstituieren. Die Macht der Bürger/innen zur Beeinflussung von Politikern und Regierung ist eng begrenzt; sie kann sich in der Praxis in nichts auflösen. Wahlen allein geben den Bürger/innen kein Recht, sich Gesetze und Verfassung zu geben, direkte Demokratie hingegen tut das. In anderen Worten, “repräsentative Demokratie” ist keine Demokratie, sondern eine konstitutionelle Oligarchie mit Wahlen. Dies ist keine Meinung, sondern eine durch Gesetz und Verfassung gegebene Tatsache. Falls meine Argumentation zutrifft, dann bleiben uns nur zwei Typen von wirklich existierender Demokratie: klassische Demokratie und aktivierende Demokratie oder vormoderne und moderne Demokratie.
In AD sind Bürger/innen und Politiker auf eine grundsätzlich andere Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig und ihre Beziehung erhält eine neue Qualität verglichen mit RD. Die gewählten Politiker haben kein Monopol auf politische Sachentscheide; sie müssen die politische Macht mit den Bürger/innen teilen. Dank der Initiativ- und Referendumsrechte haben die Bürger/innen einen direkten Zugang zur politischen Entscheidungsfällung und zur Bestimmung der politischen Agenda. Sie haben das Recht, Gesetze zu erlassen und diese wie auch die Verfassung ständig zu erneuern; es braucht also keine Krise oder Katastrophe, bevor institutionelle Veränderungen möglich werden. Die Bürger/innen haben immer wieder Gelegenheit, sich als Politiker zu betätigen und man könnte sie mit Max Weber als “Gelegenheitspolitiker” bezeichnen. Dieser Typ von Demokratie ermutigt die Menschen zur Teilnahme, die Bürger/innen haben das Recht und die Gelegenheit, sich in die politischen Entscheidungsprozesse einzumischen, und zwar regelmässig, nicht nur in Ausnahmefällen. Daher die Bezeichnung “aktivierende Demokratie”.

Die Französische Revolution öffnet einen Graben zwischen der modernen und vormodernen Welt. Sie gibt uns eine neue Sichtweise und verändert unsere Vorstellungskraft; sie setzt die Demokratie auf die Agenda der Weltgeschichte und macht sie zu einer dominierenden Idee. Die traditionelle Beziehung zwischen Regierenden und Regierten wird umgekehrt. Im neuen Bild der Gesellschaft fliesst die Macht von unten nach oben, und diese Vorstellung wird das alte Bild zersetzen, in dem die Macht von oben nach unten fliesst. Wir sollen die Gesellschaft nicht länger mehr durch die Augen eines souveränen Fürsten betrachten, dem die Untertanen Gehorsam schulden. Statt dessen können wir uns eine Gesellschaft der freien und gleichen Individuen vorstellen, welche das Recht haben ihre Gesetze und Verfassung selber zu machen. Das nennt sich Volkssouveränität. Die Menschen und ihre Rechte haben Vorrang gegenüber dem Staat, und es ist die Pflicht des Staates, diese Rechte, welche jedem Individuum von Natur aus zukommen, zu verteidigen.
Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ist ein Ausdruck für diese neue Beziehung zwischen dem Staat und den Bürgern (vgl. Artikel 1 und 2). Artikel 6 sagt, dass die Volkssouveränität auf zwei Arten ausgeübt wird, durch die Bürger selber oder durch ihre Repräsentanten. Dementsprechend sind direkte und indirekte Demokratie miteinander vereinbar.
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 |
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Art. 1 Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein. |
Art. 2 Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. |
Art. 6 Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Formung mitzuwirken. Es soll für alle gleich sein, mag es beschützen, mag es bestrafen. Da alle Bürger in seinen Augen gleich sind, sind sie gleicherweise zu allen Würden, Stellungen und Beamtungen nach ihrer Fähigkeit zugelassen ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Tugenden und ihrer Talente. |
Diagramme von repräsentativer “Demokratie” (RD) und aktivierender Demokratie (AD)


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Updated 20.04.2016