Demokratie – Wort, Ideal, Realität

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Das Wort ‘Demokratie’ bezieht sich einerseits auf ein Ideal und Prinzip und anderseits auf eine sozio-historische Wirklichkeit, die ein Wechselverhältnis zwischen dem Aufbau des Staates (Regierungsform und Institutionenbildung) und dem Aufbau des individuellen Charakters (Habitusbildung) enthält. In einer direkten Demokratie sind die Bürger/innen und Politiker auf eine fundamental andere Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig als in einer rein parlamentarischen Demokratie. Direkte Demokratie formt den politischen Habitus der Bürger/innen und Politiker auf eine andere Weise verglichen mit einer Wählerdemokratie (vgl. Die Erzeugung In/Kompetenter Bürgerinnen und Bürger)
Democrac ideal reality DE
Als Idee und Ideal ist Demokratie per Definition unerreichbar, aber es ist möglich so zu handeln, dass die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen demokratisiert werden. Um das zu tun, braucht es einen normativ sinnvollen Begriff von Demokratie (ein vernünftiges demokratisches Ideal). Nur mit Hilfe eines normativen Massstabes können wir die Distanzen zwischen Ideal und Wirklichkeit messen und abschätzen, welche Handlungen unsere Gesellschaften demokratisieren beziehungsweise entdemokratisieren.

Demokratie als Ideal

Normativ können wir uns moderne Demokratie vorstellen als Prozess und Aktivität der Erschaffung einer selbstbestimmten Gesellschaft freier und gleicher Individuen. Die Mitglieder dieser Gesellschaft haben gleiche Rechte und Pflichten. Zusammen bilden sie eine Rechtsgemeinschaft: das politische Volk der Stimmbürger (also keine Volksgemeinschaft (ethnos), sondern ein demos).

Das Demokratieprinzip setzt voraus, dass praktische Fragen und Konflikte, wenn nicht gelöst, so doch geregelt werden können, mittels öffentlicher Diskussion und ohne Gewalt.Es gibt an, wie egalitär-diskursive Meinungs- und Willensbildung und Entscheidungsprozesse institutionalisiert werden können. Dies geschieht durch ein System von Rechten, welche einerseits jederman die gleiche Teilnahme an der Rechtsetzung sichern und anderseits die dafür notwendigen Voraussetzungen gewährleisten.

In der Demokratie befolgen die Bürger/innen nur Gesetze, die sie mittels demokratischer Verfahren selbst gegeben haben. Diese Verfahren können unverzerrt nur dann funktionieren, wenn das Demokratieprinzip sowohl in den Institutionen als auch im Habitus der Menschen verankert ist.

Allerdings gehen die Meinungen auseinander darüber, wieviel und welche Art (direkt, indirekt) von Teilnahme notwendig ist, um das Demokratieprinzip zu verwirklichen. Während beispielsweise der politische Liberalismus indirekte oder Wahldemokratie bevorzugt, legt Republikanismus viel Wert auf direkte Bürgerbeteiligung.

Wahldemokratie allein kann die normativen Erwartungen von Bürger/innen, die ein Bedürfnis nach mehr Demokratie und direkter politischer Teilnahme haben, nicht erfüllen. Sie setzt vielmehr voraus, dass die Menschen das Geschäft der Politik den gewählten Volksvertretern überlassen. Mit diesem Modell hat Demokratie ihre ursprüngliche Bedeutung verloren; aus Regierung durch das Volks wurde Regierung ohne Volk. Es wurde nicht zur Verwirklichung von Demokratie entworfen, sondern zu deren Verhinderung so weit als möglich. Das vorherrschende Modell der repräsentativen Demokratie muss grundlegend verändert werden, damit es Forderungen nach mehr und direkter Bürgerbeiteiligung erfüllen kann, oder es muss auf solche Forderungen verzichtet werden.

Karl Rohes Argumentation ist typisch für das vorherrschende Denken, welches das ursprüngliche Demokratie-ideal als praktisch unmöglich verwirft und statt dessen Demokratie als die Herrschaft einer Elite versteht. Eine moderne Gesellschaft könne keinesfalls einfach alle entscheiden lassen, wenn sie Konfusion und Entscheidungsunfähigkeit vermeiden wolle. Die wirklichen politischen Entscheidungen würden immer wenigen vorbehalten bleiben. Deshalb müssten wir auf die demokratische Utopie der Regierung durch das Volk verzichten. Die entscheidende Frage sei nicht, ob einer oder alle die Entscheidungen treffen, sondern wie die wenigen in die bevorzugte Entscheidungsposition gelangen und ob sie ihre Tätigkeit zeitlich begrenzt oder dauerhaft ausübten (Karl Rohe. 1994. Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Stuttgart, Berlin, Köln, pp. 25-28).

Rohes Demokratieverständnis widerspricht die Tatsache, dass gewisse Gesellschaften einfach alle entscheiden lassen (mittels direkter Demokratie) und das mit guten Resultaten. Die entscheidende Frage lautet deshalb nicht, wie die herrschenden Politiker ausgewählt werden, sondern wer entscheidet und wie, welche Fragen direkt von allen Bürger/innen entschieden werden und welche Fragen indirekt von den gewählten Politikern, und wie die Entscheidungsprozesse gestaltet werden sollen, damit das radikaldemokratische Ideal verwirklicht werden kann.

Demokratie als Realität

Es gibt immer eine Spannung zwischen Ideal und Realität, zwischen unseren Erwartungen an die Demokratie und dem, was sie in Wirklichkeit jeweils erfüllen kann. Anders gesagt, es gibt eine Diskrepanz zwischen den normativen Erwartungen und den institutionellen Realitäten. Die verschiedenen demokratischen Regierungsformen unterscheiden sich bezüglich ihrer Kapazität, normative Erwartungen zu beantworten, und die verschiedenen Demokratiemodelle repräsentieren unterschiedliche normative Erwartungen. Beispielsweise liberale Modelle setzen keine politische aktiven Bürger/innen voraus, während republikanische Modelle genau das tun.
Tension btw ideal and reality DE
Eine möglicher Versuch, die Lücke zwischen dem demokratischen Ideal und der Realität zu schliessen, besteht darin, die Realität so zu verändern, dass sie dem Ideal näher kommt. Umgekehrt gibt es die Möglichkeit, das Ideal zu verändern und an die bestehende Wirklichkeit anzupassen. Allerdings kann das demokratische Ideal auf diese Weise seine Orientierungsfunktion verlieren und schliesslich auch seinen Sinn.

Nach Colin Crouch (Colin Crouch. 2008. Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp) geschah genau dies mit dem elitistischen Modell der liberalen Demokratie, welches nach dem Zweiten Weltkrieg an die Realität der USA und Grossbritanniens angepasst wurde. Durch diese Anpassung des Demokratiebegriffs wurde eine realistische Beschreibung von existierenden Demokratien in ein neues Demokratieideal verwandelt, welches dann der Rechtfertigung von autoritären politischen Programmen dienen kann.

Das elitistische Modell der liberalen Demokratie betont die Wichtigkeit von Wahlen, das Lobbying und dass die Politik sich nicht in die Wirtschaft einmischen soll. Es gibt den Bürger/innen die Rolle von Zuschauern und schliesst sie von einer direkten Teilnahme an den Entscheidungsprozessen aus. Dieses Modell der liberalen Demokratie hat sich sehr weit entfernt von der ursprünglichen Idee der Demokratie als Prozess der Schaffung einer selbstbestimmten Gesellschaft freier und gleicher Bürger/innen, die in Frieden zusammenleben.

Demokratie existiert als Wort, auch wenn dieses mehr und mehr ausgehöhlt wurde zu einer leeren Hülse, die mit fast jeder Form von Regierung gefüllt werden kann. Das Wort erinnert uns aber immer noch an eine mächtige Idee, an ein Ideal, das immer noch im Gedächtnis der Menschen haftet, obwohl die Machthaber und ihre Helfer immer wieder erklären, wirkliche (direkte) Demokratie sei “unmöglich” und “unklug” noch dazu. Es hilft alles nichts, das Versprechen der Demokratie hat seine Anziehungskraft nicht verloren: Regierung durch das Volk; die Schaffung einer gerechten Gesellschaft freier und gleicher Individuen; jede und jeder hat das Recht ein Mensch zu sein, sich selber zu werden, autonom zu werden, ein erfüllteres Leben zu leben.

Demokratie existiert in der Vorstellung der Menschen als mächtige transformative Idee. Ohne eine solche gemeinsame Idee, die unser Handeln leitet und antreibt, gibt es keine Demokratie. Es ist deshalb wichtig, welches Ideal die Menschen motiviert, sich in die gemeinsamen Angelegenheiten einzumischen. Ist es eine Idee von realer Demokratie, in der alle Menschen eine Stimme haben, oder ist es eine repräsentative Schosshündchen-Demokratie, welche die “gewöhnlichen Menschen” entmündigt? Ist es eine blosse Regierungsform oder auch und vor allem eine Lebensweise?

Das demokratische Ideal in Aktion

Der Kampf für mehr Demokratie wird nicht zuletzt dort entschieden, wo kollektive Vorstellungen geprägt werden. Der sicherste Weg zur Verhinderung von realer Demokratie ist es, schon die Idee der Demokratie mit einem Bann zu belegen. Dies wird und kann auf viele Weisen getan werden: beispielsweise durch die Trivialisierung von Demokratie; indem man die Menschen überzeugt, dass Ideen von Autonomie unrealistisch und naiv sind; indem radikaldemokratische Ideen als totalitär oder kommunistisch stigmatisiert werden; indem man den guten Ruf von Befürwortern realer Demokratie schädigt; indem radikale Demokratie mit Terrorismus assoziiert wird; oder ganz einfach indem solche “ungesunden” Ideen von radikaler Demokratie und von Alternativen zur autoritären und oligarchischen Herrschaft unterdrückt und verboten werden.
We are the 99 percent
Die Menschen haben einen Sinn für Gerechtigkeit und Freiheit, der von einem Regime wohl korrumpiert und unterdrückt, nicht aber zerstört werden kann. Viele Beispiele aus Geschichte und Gegenwart zeigen, dass die Idee von wirklicher Demokratie früher oder später wieder an der Oberfläche auftaucht und Menschen dazu motiviert, ihre egalitären Vorstellungen zu verwirklichen. Dies geschieht immer in Opposition zu den Machthabern und ihrer obrigkeitlichen Sicht von Staat und Gesellschaft.

Wirkliche Demokratie ist keine Fiktion, es ist nicht nur ein Zukunftsprojekt, eher ist es eine Realität, die hier und jetzt schon existiert: als kollektive Vorstellung; in der Form von demokratischen Handlungen, die vom Ideal einer radikalen Demokratie angeleitet werden; als ein Potential, das entwickelt werden muss im Staat und in der Gesellschaft, wie sie heute vorherrschen, gegen diese und jenseits von diesen; als Ausgangs- und Bezugspunkt für unser alltägliches Tun.

Wie können wir, das “Volk”, uns das demokratische Ideal als ein wirkliches Ideal denken? Das demokratische Ideal ist kein Zustand, sondern ein Prozess, eine endlose Bewegung. Es gehört zu uns und ist eingebettet in unser Tun. Es ist etwas, das uns motiviert und das wir als ausserordentlich wichtig empfinden. Es ist also nicht etwas, das uns von aussen gegeben wird und dem wir all unser Tun unterordnen müssten. Es ist ein Weg, Aktivität hier und jetzt. Es ist kein weit entferntes Ziel und nicht so, dass wir erst am Ziel mit der Ausübung von Demokratie beginnen könnten. Das demokratische Ideal gehört in die Gegenwart, nicht in die Zukunft.

Ideal in action DEZwei Arten zu verstehen, was das Wort ‘Ideal’ bedeutet

Demokratie ist ein Prozess und als solcher mehr als die Verfassung, mehr als ein Ensemble von Institutionen oder Regime, mehr als eine Serie von Verfahren, welche die Demokratie manifestieren. Demokratie ist etwas, das offen bleiben muss, veränderbar, korrigierbar, also in gewisser Weise unbestimmt, aber sie darf ihre Kernbedeutung, die Volkssouveränität, nicht verlieren.

Demokratie im Alltag muss mit nicht-demokratischen Realitäten zusammenstossen. Sie impliziert einen Kampf gegen alle Versuche, eine geschlossene Gesellschaft zu bilden, und gegen alle Versuche des Staates und der Wirtschaftskonzerne, den Menschen ihre Herrschaft aufzuzwingen.

Das demokratische Ideal entwickelt sich als kollektiver Lernprozess, der als permanenter Dialog zwischen Ideal (Theorie) und Erfahrung (Praxis) beschrieben werden könnte, wobei das Ideal beides tut, es leitet die Praxis an und baut auf ihr auf.

(…) wahre Ideale sind die Arbeitshypothesen der Aktion; sie sind das beste Verständnis, das wir vom Wert unserer Handlungen gewinnen können; ihr Nutzen liegt darin, dass sie unserem Bewusstsein anzeigen, was wir tun, nicht darin, dass sie weit entfernte Ziele setzen. Ideale sind wie Sterne, wir orientieren uns mit ihrer Hilfe, wir steuern nicht auf sie zu. (John Dewey. 1897. Study of Ethics, a Syllabus. p. 40)

Im Jahre 2011 versammelten sich Millionen Menschen auf den Strassen und Plätzen dieser Welt und forderten Wirkliche Demokratie Jetzt! Sie berufen sich auf die ursprüngliche Idee der Demokratie im Protest gegen die grossen Konzerne und Regierungen, welche die Erde und die Menschlichkeit zerstören. Diese sozialen Bewegungen zeigen, dass wirkliche Demokratie in unseren Gesellschaften schon existiert, wenn auch am Rande. Während immer mehr Menschen sich von ihren Regierungen nicht mehr repräsentiert fühlen, tun die Herrschenden alles, um wirkliche Demokratie zu verhindern und ins Reich der unrealistischen Träume zu befördern.

Ein immer grösser werdender Riss trennt Regierende und Regierte (WE ARE THE 99%); die Tiefe dieses Risses entspricht dem Ausmass in dem es den Regierenden gelingt, Machtresourcen zu monopolisieren, beispielsweise das Recht über politische Sachfragen zu entscheiden, oder das Recht, Geld zu schöpfen. Wenn wir Menschen über blossen Protest hinausgehen wollen, dann brauchen wir dazu Instrumente, die es uns erlauben, unsere eigenen Vorstellungen und Lösungen zur Diskussion zu stellen. Wir brauchen beides, das Recht schlechte Entscheide der Regierung oder des Parlaments (Gesetze) ablehnen zu können und das Recht, unsere eigenen Gesetze zu machen, d.h. wir brauchen das Referendums- und Initiativrecht.

Weiter: Zwei Sichtweisen auf Demokratie

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